Degenerative Gelenkerkrankungen

 

Unter der großen Zahl erworbener Gelenkerkrankungen hat die Arthrosis deformans (ver­formender Gelenkverschleiß) größte Bedeutung. Sie ist das häufigste Leiden des Menschen, da die Grundvorgänge durch Form und Funktion des Gelenkknorpels bedingt sind. Dieser erhält seine Elastizität durch den Flüssigkeitsgehalt und wird durch Quellungsdruck unter Spannung gehalten. Die Ernährung des Knorpels erfolgt durch Diffusion vom spongiösen Knochen her und wird durch den Wechsel von Druck und Entlastung bei der Funktion unter­stützt.

Abnahme des Flüssigkeitsgehalts des Körpers im Laufe des Lebens (physiologisch!) führt zum Nachlassen des Quellungsdrucks, zur Plastizität des Knorpels (Randüberhang) und zur Entquellung („Demaskierung") knochennaher Faseranteile, die nun verknöchern (Ossifikation): Der Knorpel wird dünner. Diese lebensbedingten Vorgänge können mannig­fach beschleunigt, auf bestimmte Gelenke und Gelenkbezirke konzentriert und damit krank­haft werden.

Bereits die sitzende (stehende) bewegungsarme Lebensweise des zivilisierten Menschen gefährdet den Knorpelstoffwechsel besonders im Hüft- und Kniegelenk. Mecha­nische Fehlbelastung (z. B. 0- und X-Beine, Coxa vara, Coxa valga), funktionelle Fehl­belastung (Ballett, manche Sportarten, viele Berufe), einmalige (Unfall) und dauernde kleine (vibrierender Boden, Verkehrsmittel) Traumatisierungen, schließlich anlagemäßige Schwäche (Hüftdysplasie) sind verstärkende Faktoren.

Die Ossifikation erfolgt rascher zu­nächst in den überhängenden Randbezirken (Randwülste, Randzacken), dann auch im Knorpelbelag, wo schließlich die Oberfläche erreicht wird (Knorpeldefekt). Die empfindlich reagierende Gelenkinnenhaut ist in das Geschehen eingeschaltet mit Über­produktion von Synovia (Erguß) oder Unterproduktion („trockenes" Reiben).

Das klinische Bild ist durch Schmerz und Bewegungseinschränkung (Kontraktur) bis zur Ankylose gekennzeichnet. Die Schmerzen treten als Initialschmerz beim Bewegungsbeginn, Funktions­schmerz nach längerer Belastung, Ruheschmerz nach der Belastung (nachts!) und Verspannungsschmerz der reflektorisch bewegungshemmenden Muskeln auf. Sie geben Hin­weise für zweckmäßigen Ansatz der symptomatischen (die Erscheinungen, nicht die Ursache beeinflussenden) Therapie. 

Die Kontrakturen entwickeln sich aus Schmerzschonung, Kapsel-und Muskelschrumpfung. Typisch sind Streckhemmung (= Beugekontraktur) im Knie­gelenk, Außenrotations-, Adduktions- und Beugekontraktur im Hüftgelenk. Die Adduktionskontraktur mit der „funktioneilen Verkürzung" des Beines belastet das übrige Bewegungs­system besonders (Abb. 166a, b). Die vermehrte, häufig unnatürlich verlaufende Bewe­gungsbelastung (gegenseitiges Hüftgelenk, Wirbelsäule) wirkt mechanisch und funktionell schädigend (arthrosis deformans der Nachbargelenke). Die Therapie ist vielseitig, weil ein kausaler (ursächlicher) Angriffspunkt fehlt.

Besonderes Geschick und Einfühlungsvermögen sind notwendig, zumal die ständig schmerzgeplagten Patienten häufig unleidlich werden. Die schmerzhaften Reaktionen der Gelenkinnenhaut können durch Funktionsreize, hydro­therapeutische Maßnahmen und Medikamente beeinflußt werden. Die verspannte Musku­latur wird gelockert und gekräftigt. Der Gelenkstoffwechsel muß reguliert werden (Bewe­gung unter Entlastung).

Zuweilen ist operatives Vorgehen geboten. Meist opfert man die Bewegungsfunktion, um schmerzfreie Stabilität zu erreichen: Arthrodese. In wenigen Fällen ist die Arthroplastik angezeigt. Sie fordert nicht nur technisches Geschick vom Operateur und Physiotherapeuten, sondern setzt auch energische Mitarbeit des Patienten voraus. In neuerer Zeit geben funktionsbeeinflussende Operationen (Umstellungsosteotomie) hoffnungsvolle Ausblicke.

Selten wird Fixierung, Stützung, Ent­lastung oder Führung des Gelenks durch einen Apparat vorgenommen. Bei Nervenleiden mit Sensibilitätsstö­rungen (Tabes, Syringomyelie) fehlt der Schmerz. Es kommt nicht zur Kontraktur, sondern zur Überdehnung aller Gelenk­bänder („Schlottergelenk") bei monströser Gelenkdeformierung: neuropathische Arthropathie. Im Grundvorgang der Arthrosis deformans ähnlich verlaufen die Veränderungen an der Wirbelsäule, die Osteochondrose die zur Spondylosis deformans führt.

Die funktionelle Aufgabe der Wirbelsäule als „Achsenorgan", die Doppelgelenkigkeit (kleine Wirbelgelenke, Bandscheiben) und enge Be­ziehungen zu Rückenmark, Nervenwurzeln und vegetativen Zentren (Spinalganglion) können aber zu vielfältigeren Krankheitserscheinungen führen. Im Lumbaibereich überwiegen Segmentlockerung und Wurzelreizsyndrom. Bei Flüssig­keitsabnahme, Elastizitäts- und Höhenverlust der Bandscheiben stehen die Längsbänder der Wirbelsäule nicht mehr unter Spannung.

Folge ist eine Instabilität (häufig im Lenden-Kreuzbein-Übergang) : Segmentlockerung. Sie wird zum Teil von der Musku­latur ausgeglichen, die damit überlastet, verspannt (hypertonisch) und schmerzhaft wird. Zufallsbewegungen können zu plötzlicher Bänderzerrung, heftigem Schmerz und Bewegungssperre führen: Lumbago (= „Hexenschuß"). Die Möglichkeit von Verklemmung („Blockade") der kleinen Wirbelgelenke (Anschauung der sog. Chiropraxis = Wirbelsäulen­behandlung durch Handgriffe) ist umstritten.

Wird durch die vorquellende Bandscheibe (Elastizitätsverlust) die Nervenwurzel gedrückt, entsteht eine Reizung mit Schmerzen und Ausfällen in dem zugehörigen Versorgungsbereich des „Segmentes" (Reflex- und Gefühlsstörungen, Muskelschwächen): Bandscheibenvorfall.

Richtiger aber ist die Bezeichnung Wurzelreizsyndrom infolge Bandscheiben­vorfalls. Selten reißt die Bandscheibe, und ihr Kern wird herausgedrückt: Nucleus-pulposus-Prolaps. Die klinischen Erscheinungen sind im Prinzip gleich. Behandelt wird mit Entlastung (Extension, PERUcAes Gerät), Entspannung der Muskulatur (Wärme,  Fangopackungen, Fango-Bäder, Heilmassagen), Stabilisierung des Wirbelsäulenabschnitts (Übungsbehandlung; sehr selten Bandage oder Korsett), Dämpfung der Nervenleitung (Jenacain) oder Beseitigung der Raumbeengung (Operation).

Im Zervikalbereich entsprechen die Vorgänge noch mehr der Arthrosis deformans. Es kommt zu Randwulst- und Randzackenbildungen am Wirbel. Sie können in diesem Wirbelsäulenabschnitt die Nervenwurzel (oder das Rückenmark) direkt irritieren.

Auch kann die a. vertebralis, die durch die Querfortsätze verläuft (Versorgungsbereich: Stammhirn), beengt werden. Die schmerzhaften Wurzelreizungen im Bereich der Halswirbelsäule treten als SchulteT-Arm-Syndrom oder Nacken-Hinterhaupt-Syndrom in Erscheinung.

Neben Gefühlsstörungen, Mißempfindungen und Kraftlosigkeit kommt es zu Muskelverspannungen. Diese reizen die Sehnenansatzstellen und können sekundäre Krankheitserscheinungen (Periarthritis, Epikondylitis) hervorrufen. Auch das Skalenussyndrom, eine Reizung des Halsnervengefledits (plexus cervicalis) durch die verspannten Skalenusmuskeln, ent­steht auf diese Weise.

Die Therapie entspricht dem Vorgehen im Lumbaibereich, bleibt aber fast immer konservativ. Die Durchflußbeengung der a. vertebralis kann Hirnfunktionsstörungen (z. B. Gleichgewichtsstörungen) bedingen. Beeinträchtigung der Zentren des vegetativen Nervensystems, des Steuerungsorgans auch der inneren Organe, wird für möglich gehalten.

Auch Nervenwurzelreizungen am Rückenmark können reflektorisch Organstörungen hervor­rufen. Zahlreiche Systeme der „Wirbelsäulentherapie" wollen von hier aus innere Organe behandeln. Ihre Grundanschauungen sind meist spekulativ (= wissenschaftlich nicht gesi­chert, vermutet).